Das Pflaster auf der Wunde
von Florian Asche
Tommis Eltern wurde schon früh klar, dass sich ihr Sprössling etwas anders entwickelte als sie erwartet hatten. Schon in der Vorschule fiel es ihm schwer, sich auf eine Sache zurzeit zu konzentrieren. Der Kleine sprang in der Vorlesestunde auf, lief zum Fenster und zeigte auf eine Möwe, die dort am Fensterbrett pickte. Beim Malen wollte er lieber Musik hören und beim Singen lieber malen, am besten alles zeitgleich und durcheinander. „Das verwächst sich wieder“, meinten die Großeltern, „Zappelphilipps hat es schon immer gegeben.“
Doch es verwuchs sich nicht. Am ruhigsten war der Junge, wenn man ihn mit Papas Smartphone in eine Ecke setzte. Stundenlang konnte das Kind dort kleine bunte Raumschiffe abschießen und war das stillste Wesen der Welt, bis zum Moment, in dem er das Ding zurückgeben sollte. Als die Noten immer bedenklicher nach unten sackten, meinte die Lehrerin, Tommi habe vielleicht doch ADS. Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom – hinter drei einfachen Buchstaben verbirgt sich die gesamte Angst der Elternwelt vor dem sozialen Abstieg eines Schulversagers. Ab da begann die übliche Tournee zu verschiedenen Ärzten und Therapeuten. Was muss das für ein Gefühl sein, einem 9-jähigen schon morgens und abends eine Pille zu verabreichen? Immerhin, mit dem Ritalin lief es etwas besser in der Schule. Doch irgendwie kam Tommi den Eltern immer etwas blass vor, weniger antriebsstark und begeisterungsfähig, weniger ihr Kind.
Seit dem letzten Sommer* ist alles anders. Freunde hatten den Jungen zu einem Angelurlaub nach Schweden mitgenommen. Nach drei Tagen hatte Tommi dort seine Medikamente verloren und es war niemandem aufgefallen. Stundenlang konnte er am See sitzen und Blinkern, unterschiedliche Köder ausprobieren, Fische drillen und später am Feuer ausnehmen und mit der Familie zum Mittag essen. Beim Töten hatte er kurz gezögert, doch das intuitive Selbstverständnis des Kindes hatte sehr schnell die Erkenntnis gebracht, dass Tod und Töten naturnotwendig sind. Und natürlich wollte dieses Kind sein, so wie Indianer, Trapper, Steinzeitmenschen. Tommi war frei. Die Eltern konnten es kaum glauben, als ihre Freunde die Geschichte nach Hause brachten. Doch die Begeisterung, mit der ihr Junge berichtete, machte sie glücklich. (weiterlesen)

Ritalin ist das Medikament, das der Junge in seinem Urlaub verloren hat, hier der Screenshot von der Googlesuchphrase "Ritalin"


